Mein lieber XXX
Als ich deinen Brief in meinem Postfach gesehen hatte, bekam ich eine
große Freude, obwohl ich den noch nicht gelesen hatte. Jeden Tag warte
ich ungeduldig auf deine Nachrichten. Wir haben gleiche Ansichten an
viele Momente, unsere Gedanken und Meinungen sind auch ähnlich, ich
bin sicher, wir treffen uns bald. In meinen Träumen stelle ich mir
sogar vor: was ziehe ich zu unserem Ersttreffen an? Ein Kleid und
Highheels? Ich möchte für Sie attraktiv sein. Ich versuche Sport zu
treiben, um fit zu bleiben und um meine Gesundheit zu „unterstützen“.
Von Jugend auf schwimme ich und habe mit dem Trainieren fast nie
aufgehört. Man schwimmt genau so leicht, wie man atmet. Das Schwimmen
fällt leichter, als Laufen oder Gymnastik. Im Operationsraum verbringe
ich mehrere Stunden mit den Chirurgen und mit den Patienten, dank dem
Schwimmen habe ich doch keine Rückenschmerzen. Meine Gesundheit ist
für mich meine Schönheit... Ich bin eine Nichtraucherin und trinke
Alkohol nur in seltenen Fällen. Ich mag die Einfachheit der Dinge.
Ich hab schon dir gesagt, ich mag Kochen, ich esse doch keine fetten
oder gesalzenen Speisen. Ich mag frische Obst und Gemüse. Seit Jahren
gelang es mir, meinen Körper zu hören. Wenn man dafür sorgt, versteht
man, was unser Organismus genau braucht. Indem wir davon ausgehen,
treffen wir die Wahl beim Essen. Wenn ich mein Wochenende am Samstag
oder am Sonntag habe, fahre ich zum Viktualienmarkt, um Fisch zu
kaufen. Ich koche Fisch mit den Gewürzen und mit dem Zitronensaft. Ich
mag kochen nicht nur fürs Essen, ich mag den unmittelbaren Prozess. Es
gefällt mir, ein gutes italienisches, indisches oder deutsches Rezept
zu finden und nach diesem Rezept eine Speise dieses Landes in den
besten Traditionen aufzubereiten. Manchmal fahre ich zur Galerie
Kaufhof, um alle nötigen Zutaten zu finden. Die Preise sind dort hoch,
zu hoch, ich bin doch sicher, nur dort kann ich die echte Vielfalt der
Zutaten von verschiedenen Küchen verschiedener Länder finden. Ach, ich
habe dir geschrieben und bin schon hungrig geworden. Ich hoffe, du
hast jetzt keinen Hunger? Was hast du heute gegessen?
Wie ich es dir schon gesagt hatte, es gefällt mir dich zu kontaktieren
und ich möchte dir alles, wirklich alles erzählen. Ich möchte dir über
mein ganzes Leben erzählen. Ich meine, meine Erzählungen helfen dir
mich besser kennenlernen. Erzähle mir über dein Leben in kleinsten
Details, so können wir spüren, dass wir einander näher werden. Ich
meine auch, wenn wir jemandem über unsere Vergangenheit erzählen,
reisen wir mit ihm durch die Zeit. Ich möchte dich einladen, eine
Reise durch meine Vergangenheit zu machen.
Ich wurde in Russland in Moskau 14 Februar 1967 geboren. Meine Eltern
waren beide Ärzte. Ich wohnte in Moskau über 49 Jahre. Ich kann nicht
sagen, ich mag diese Stadt nicht, ehrlich gesagt, ich bevorzuge doch
München. Moskau ist eine große, lärmvolle und teure Stadt, im Winter
ist es dort zu kalt. Wir wohnten damals in einem schönen Stadtteil im
Stadtzentrum namens Chamovniki. Meine Mutter starb früh, als ich an
der Uni studierte. In 5 Jahren heiratete mein Vater zum zweiten Mal,
er hatte keine Kinder von seiner zweiten Ehefrau. Ich verlor meinen
Vater im Jahre 2010, 2011 wurde ich verwitwet und meine Tochter verlor
ihren Vater. Ich habe schon dir erzählt, als mein Mann starb, waren
wir tatsächlich nicht zusammen. Ein plötzlicher Tod von 2
Familienangehörigen spielte doch seine Rolle. Als ich einen Vorschlag
bekam, in Deutschland zu arbeiten, sagte ich sofort „ja“, ohne lange
zu überlegen. Ich möchte sehr wegfahren, als ob es mir helfen könnte,
schlechte Erinnerungen zu vergessen. Es klappte. Ich habe meine Stadt,
mein Land, meine Umgebung gewechselt. Ich begann ein neues Leben, ich
begeisterte mich für alles Neue, was es um mich herum gab, es hat mir
sehr geholfen. Um in Deutschland zu arbeiten, sollte ich von meiner
Abreise mein russisches Diplom bekräftigen. Es ist schon dir bekannt,
ich hab Interesse an vielen Dingen. In der Schule habe ich Deutsch
sehr gerne erlernt, dann erlernte ich es an der Uni weiter. Deshalb
beherrschte ich Deutsch ziemlich gut, als ich diesen Arbeitsvorschlag
aus Deutschland bekam. Ich brauchte doch ein ganzes Jahr, um richtiges
Sprechen und Schreiben auf Deutsch zu beherrschen, um alle nötigen
Prüfungen abzulegen und nach Deutschland zu fahren.
Ich habe viele Jahre lang zu einem Anästhesist-Rheumatologen studiert.
Zuerst studierte ich im Russischen Nationalen
N.I.Pirogov-Forschungsinstitut.
Nach den Ergebnissen meines Studiums bekam ich eine Möglichkeit,
Anästhesist zu werden. Grundsätzlich arbeiteten die Männer damals als
Anästhesisten. Unsere Gruppe bestand aus 4 Menschen und ich war eine
der 4 Frauen in dieser Gruppe. Nach der Uni hatte ich mein
vierjähriges Studium im Krankenhaus, ich habe die Prüfungen
erfolgreich abgelegt, dann habe ich mehrere Jahre im Bereich der
Kardiologie gearbeitet.
1993 heiratete ich, 1994 wurde meine Tochter geboren. Es war eine sehr
schwierige Zeit, als die UdSSR zerfallen wurde, war der Arbeitslohn
miserabel und wir arbeiteten wie die Wahnsinnigen, um unsere Tochter
durchzufüttern. Schon damals ging die Beziehung mit meinem Mann quer.
Er war als Ingenieur und ich als Anästhesist tätig, unsere 2 Löhne
reichten doch nicht. Wir beide liebten unsere Tochter und sollten
arbeiten, damit unser Kind gut versorgt war. Der Beruf eines
Anästhesist-Rheumatologen ist sehr verantwortlich. Ich betäube den
Patienten vor dem Eingriff und nicht nur das, ich überwache seinen
Zustand während der OP und in den schlimmsten Fällen nehme ich an der
OP selber teil. Eine Krankenschwester-Anästhesistin hilft mir dabei.
Ich habe sehr viel gearbeitet und zu Hause habe ich meine ganze
Freizeit meiner Tochter gewidmet, ich kümmerte mich um sie, ich machte
mit ihr ihre Hausaufgaben und ich hatte keine Zeit für meine
Hausarbeit. Die Spezifik meiner Arbeit blieb für meinen Mann
unverständlich, ich konnte doch niemanden bitten, mir meinen
Arbeitstag zu verkürzen, weil ich für die Menschen in den besonders
stressvollen Momenten ihres Lebens sorgte. Mein Mann verstand es nicht
und ich verstand nicht, wie er mich früher zu kommen bat, statt an der
Herzens-OP eines kleines Mädchens teilzunehmen. Dieses Missverständnis
hat unsere Gefühle getötet. Die große Liebe zu unserer Tochter
verwandelte uns doch in befreundete Eltern, die fürs Glück unserer
Tochter zusammen lebten. Sie war 12 Jahre alt, als wir uns doch
trennten.
So haben wir unter einem Dach noch 5 Jahre lang gelebt, wir waren
immer noch die Ehegatten, es gab doch keine Liebe und keine Beziehung.
Mein Mann starb an Krebs. Meine Tochter war damals 17 Jahre alt, im
nächsten Jahr musste sie sich an der Uni immatrikulieren lassen, man
brauchte das Studium zu bezahlen. Ich habe also den Vorschlag – in
München zu arbeiten – angenommen. In einem Jahr war ich schon in
Deutschland, meine Tochter begann ihr Studium, sie betrat das
Studentenleben und die Medizinwelt, sie wechselte ihre Umgebung, ihre
Ansichten, sie begann ihren Traum – Arzt zu werden – zu verwirklichen.
Sie bekam ein Ziel, sie war frei, glücklich und begann wieder zu
lächeln. Bald schließt sie ihr Studium ab und beginnt zu arbeiten.
So ist meine Geschichte nach dem Umzug nach Deutschland. Ich besuche
Moskau nicht so oft, meine Tochter fährt gewöhnlich zu mir und wir
reisen zusammen, wenn wir uns das die Zeit erlaubt. Wir haben schon
Essen, Berlin und Dresden besucht. Ich vermisse meine Tochter sehr
stark, die Entscheidung über den Umzug war doch richtig. Ich konnte
ihr Studium bezahlen und Harmonie finden. Ich hoffe, sie versteht mich
jetzt. Als ihr Vater an Krebs gestorben war, als er uns wegen der
Krankheit verlassen hatte, verstand sie: „Ich möchte Arzt werden“.
All das scheint etwas traurig zu sein, so ist doch das Leben. Und
jeden Tag lehrt es mich alles, was ich habe, zu schätzen: mein Leben
und meine Tochter, den Sonnenaufgang, die Luft, die ich einatme. Ich
genieße jeden Augenblick des Lebens, das Leben macht mir Spaß. Ich
lächle und bin glücklich... sogar in meiner Einsamkeit. Ich denke oft,
meine Tochter ist jetzt schon erwachsen und ich darf einige
Aufmerksamkeit meinem Privatleben schenken. Es ist noch nicht zu spät,
seriöse Beziehung aufzubauen, sich zu verlieben, jemanden zu lieben
und geliebt zu sein.
Ich habe es genug, allein zu sein. Ich möchte, dass mich zu Hause mein
Lieblingsmensch trifft, ich möchte für ihn köstliches Abendessen
kochen, zusammen ins Kino oder ins Theater gehen, Musik hören, im Park
spazieren, reisen... Ich hatte keine seriöse Beziehung, seitdem ich
nach Deutschland gefahren bin. Mir jagt keine Menge Verehrer nach, man
lädt mich doch ins Cafe ein, man macht mir die Komplimente, ich hab
doch bisher keinen seelenverwandten Menschen getroffen. Ich lege
keinen großen Wert aufs Äußere, die Seele spielt für mich eine sehr
große Rolle, ich möchte sehr „den richtigen und einzigen“ treffen. Ich
meine, es gelingt mir, sich zu verlieben und einen Menschen, den ich
lieben werde, glücklich zu machen. Ist es möglich?
Ich habe heute einen langen Brief geschrieben. Der ist wirklich zu
lang, es ist doch vom ganzen Herzen, jedes Wort. Jetzt möchte ich über
mein Leben mit dir sprechen und darüber, was ich suche, ich möchte dir
meine Gedanken und Gefühle mitteilen. Ich möchte über dich alles
wissen. Ich möchte alle Details kennen, ich möchte von dir einen
langen Brief auch empfangen. Es gefällt mit, deine Briefe zu lesen.
Deine Antwort erwartende Johanna. (Mein russischer name Yana)