Danke für deinen nächsten wärmevollen Brief. Ich erwarte ungeduldig,
wann ich dich endlich sehen und umarmen kann. Ich hoffe sehr, es
passiert bald. Man kann vielleicht die Tage vor unserem langersehnten
Treffen abzählen?
Ich möchte dich endlich sehen und erzählen, welchen Platz du in meinem
Leben genommen hast. Es ist so wichtig für mich, dass alle anderen
Ereignisse in den Hintergrund treten und sogar mit mir passierende
Unannehmlichkeiten scheinen nicht so schrecklich und unlösbar zu sein.
Obwohl es noch bestimmte Probleme gibt und für einige habe ich leider
noch keine Lösung gefunden.
Es fand sich heraus, dass ich vor ein paar Tagen zu selbstsicher war,
indem ich sagte, ich kann alle Unannehmlichkeiten ohne deine Hilfe
meistern. Ich möchte eine kleine Intrige bis unser Realtreffen
behalten, die Ereignisse entwickeln sich doch so, dass ich alles jetzt
erzählen muss.
Interessiert du dich für die Weise, wo ich in ein paar Tagen 10000 Euro
finden kann? Jetzt muss ich deine Frage beantworten. Erinnerst du dich
daran, ich habe dir die Geschichte meiner Familie erzählt? Meine
Großmutter hatte eine sehr berühmte aristokratische Herkunft und zur
Erinnerung an sie habe ich einige Familienschmucksachen bekommen, die
einen großen Wert haben. Das sind ein Ring, ein Anhänger und die
Ohrringe. Vor einigen Tagen habe ich die ins Antiquitätengeschäft
gebracht. Man bat mich etwas zu warten, bis eine Schätzung
stattfindet. Und heute habe ich die Ergebnisse bekommen. Es ist doch
keine Summe, mit der ich gerechnet hatte. Ich kann mit meinen Nachbarn
keine geringere Summe vereinbaren, weil wir eine Vereinbarung
abgeschlossen haben, nach der ich vor meiner Rückfahrt 10000 Euro
auszahlen muss. Ich habe auch kein moralisches Recht, kein Geld ihnen
zu geben. Sie haben zugestimmt, das Restgeld so lange zu erwarten, bis
ich einen Kredit aufmache. Wir haben die Mindestsumme gerechnet, die
sie jetzt brauchen, um ihre Wohnung irgendwie in den Zustand zu
bringen, wo ein Kleinkind gefahrlos wohnen kann. Als ich den
Begutachter gefragt hatte, warum er die Schmucksachen – ich weiß, sie
kosten viel mehr – so billig geschätzt hatte, sagte er mir, es ist mit
der Zeit verbunden. Wenn man die Sachen dringend verkaufen muss, kauft
das Antiquitätengeschäft diese Sachen selbst und wartet auf den
Käufer. Und es gibt dann ein bestimmtes Risiko. Um diese Sachen teurer
zu verkaufen, muss man die Schmucksachen dem Geschäft zu den
Kommissionsbedingungen übergeben. Das heißt, ich bleibe die Inhaberin
dieser Sachen und sobald man einen Käufer findet, werden diese Sachen
nach dem zum Realpreis nahen Preis verkauft und ich zahle dann nur
eine kleine Belohnung dem Geschäft aus. Es ist doch unbekannt, wann
man den Käufer findet. Es kann einige Monaten dauern und ich habe
keine Zeit. Ich habe gar keine Zeit, um zu warten. Und wenn ich nach
München fliegen möchte, muss ich alles ganz schnell verkaufen, für
den Preis, den man mir heute anbietet. Es tat mir leid, diese Sachen
zu verkaufen, es war die einzige Erinnerung an meine Voreltern, an
ganze Generation. Es tut mir leid, dass sie in fremde Hände kommen.
Und es tut mir noch mehr leid, dass deren Verkauf mein Problem nicht
völlig löste.
Lieber XXXXXXX, mit schwerem Herzen muss ich dich wieder um Hilfe
bitten, mir 10000 Euro zu verleihen. Und es scheint mir, ich bekomme
eine Erleichterung, wenn du mir absagst. Für mich ist es eine
übermäßige moralische Last... Es ist so schwer, bei dir etwas zu
bitten. Um so mehr, ich war ganz sicher, dass sich diese Situation
ohne deine Teilnahme regelt. Das Schicksal schenkt doch noch eine
Prüfung für unsere Gefühle. Besser gesagt, es sei eine Prüfung für
deine Gefühle, weil mein Verhältnis zu dir jegliche deine Antwort
nicht verändern kann. Und ich kann dein Vertrauen und deine Achtung
verlieren. Du kannst wegen meiner Probleme müde werden. Und hast dafür
volles Recht. Es wird ganz klar, logisch und verständlich sein. Es ist
doch so fürchtend. Ich möchte dich nicht verlieren, ich möchte mit dir
mein ganzes Leben lang sein. Ich möchte mit dir zusammen sein. Und ich
habe Angst vor der Zukunft unserer Beziehung. Oh mein Gott, ich weine
wieder, ich vergieße doch diese Tränen anstatt meines Wunsches. Und
ich kann die nicht halten. Es ist für mir sehr bitter und es tut mir
weh. Ich fühle mich unwohl, weil mir das Schicksal einen Schlag nach
dem anderen gibt. Und all das passiert dann, wenn es mir schien, ich
habe mein Glück endlich gefunden. Ist das vielleicht eine Bezahlung
dafür, dass ich mich so glücklich fühlte, als ich dich kennengelernt
hatte? Vielleicht darf man so glücklich nicht sein und den Gefühlen
nicht erlauben, dich völlig und ganz zu erobern? Ach, ich möchte so
sehr in die Tage zurückkehren, die ich vor meiner Moskauer Fahrt
hatte, damit ich keine schrecklichen Wochen der Verzweiflung und
Ausweglosigkeit hatte. Es befürchtet mich sehr, daran zu denken, ich
kann dein Vertrauen und deine Achtung verlieren, ich habe doch keinen
anderen Ausweg. Es ist so schrecklich, dich um Geld zu bitten. Ich
möchte nicht, dass es unsere Beziehung beeinflusst. Ich bin daran
gewohnt, dass ich immer selber verdiene und meine Tochter ohne
jegliche Unterstützung großziehe. Es ist eine demütigende Situation.
Und ich war mir sicher, ich gerate nie in solche Situation. Das Leben
kann doch mal so hart sein.
Ich weiß nicht, mit welchen Worten ich diesen Brief beenden muss. Ich
habe Angst: was antwortest du mir? Ich befürchte deinen Brief zu lesen
und deine Antwort zu schauen. Jetzt möchte ich nur eins – meine Augen
schließen und die erst in München öffnen, ohne diese wahre Hölle und
diesen Schreck, die mich hier in Moskau die letzten Wochen umkreisen.
Herrgott, wofür bestrafst du mich so hart?
XXXXXXX, unabhängig von deiner Antwort möchte ich dir sagen – ich
hoffe... Ich hoffe, dass irgendwo im Himmel unser Schicksal schon im
voraus bestimmt ist und wir sollen in diesem Leben zusammen sein.
Kuss
dein trauriger Engel Johanna.